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Pflegegrad abgelehnt – was muss die Praxis dazu wissen?

Wer pflegebedürftig ist, hat Anspruch auf eine Pflegegrad-Einstufung und die damit verbundenen Leistungen. Doch viele Anträge werden im ersten Anlauf abgelehnt. Wie es dazu kommt und was Beschäftigte in Praxen dazu wissen sollten.

Paul Redlich wird wegen rezidivierenden Depressionen behandelt und hat zusätzlich mehrere chronische Erkrankungen. „Nach seiner letzten Operation kam er nicht wieder richtig auf die Beine. Wenn ich nicht wäre, würde er verhungern und verwahrlosen“, sagt Dana Redlich. Seine Frau sorgt dafür, dass Paul Redlich morgens aufsteht, regelmäßig isst und trinkt, eine Tagesstruktur hat, seine Medikamente einnimmt, sich wäscht, saubere Kleidung trägt und zu seinen Arztbesuchen erscheint. „Selbstständig ist er nicht mehr“, meint Dana Redlich. Deshalb hat sie für ihren Mann – in Absprache mit dem Hausarzt - einen Pflegegrad bei der Pflegekasse beantragt.

Die Pflegegutachterin ist freundlich und obwohl Paul Redlich gegen ihren Besuch war, gibt er ihr schließlich Auskunft. Wie er sich bewegen kann, ob er sich in seinem Umfeld zurechtfindet und zielgerichtet handelt, ob er paranoid oder aggressiv ist, wie er es mit der Körperhygiene hält, ob er compliant ist und ob er seinen Alltag allein gestalten kann. „Einmal in der Woche schäle ich Kartoffeln“, berichtet der 60-Jährige stolz.

Nach vier Wochen liegt der Bescheid im Briefkasten. Pflegegrad abgelehnt. Zu Recht?

 

Wer hat Anspruch auf einen Pflegegrad?

Versicherte, die Pflegeleistungen beanspruchen wollen, müssen innerhalb der letzten 10 Jahre vor dem Antrag 2 Jahre in die Pflegekasse eingezahlt haben oder familienversichert gewesen sein. Pflegebedürftigkeit kann körperlich, psychisch oder geistig bedingt sein. Wer Leistungen der Pflegekasse beanspruchen möchte, muss von einer begutachtenden Person als pflegebedürftig eingestuft werden. Die entscheidende Frage ist: Inwieweit kann der Mensch seine täglichen Anforderungen selbstständig bewältigen? Für das Gutachten werden Fragen in diesen 6 Lebensbereichen gestellt:

  • Modul 1: Mobilität (Beweglichkeit)
  • Modul 2: Kognitive und kommunikative Fähigkeiten (verstehen und reden)
  • Modul 3: Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
  • Modul 4: Selbstversorgung
  • Modul 5: Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
  • Modul 6: Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte

 

Für die Antworten werden Punkte vergeben. Dabei wird Modul 1 mit 10 %, Modul 2, 3 und 6 mit je 15 %, Modul 4 mit 40 % und Modul 5 mit 20 % gewichtet. Für einen Pflegegrad 1 müssen 12,5 bis unter 27 Punkte erreicht werden, für den höchsten Pflegegrad 5 90 bis 100 Punkte.

Voraussetzung: Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer (voraussichtlich länger als 6 Monate) bestehen.

Im Jahr 2022 führten die Medizinischen Dienste bundesweit mehr als 2,5 Millionen Pflegebegutachtungen durch. Eine Bearbeitungsfrist von 25 Arbeitstagen ist gesetzlich vorgegeben. In bestimmten Fällen kann die Frist auf eine Woche verkürzt werden, z. B. wenn die antragstellende Person in einem Hospiz oder ambulant palliativ versorgt wird.

Die meisten Einstufungen im Jahr 2022 wurden für den Pflegegrad 2 vorgenommen. Als „nicht pflegebedürftig“ wie Paul Redlich wurden 17,5 % eingestuft.

 

Bescheid prüfen und ggf. widersprechen

„Weil er sagt, er würde manchmal Kartoffeln schälen, was noch nicht mal hinterfragt wurde, gilt er als selbstständig?“ Dana Redlich ist mit dem Bescheid der Pflegebegutachtung nicht einverstanden. Auch die psychischen Beeinträchtigungen ihres Mannes wurden ihrer Meinung nach nicht ausreichend berücksichtigt. Sie legt Widerspruch mit Begründungen bei der Pflegekasse ein. Diese muss Paul Redlich erneut begutachten.

Im Jahr 2022 führte der Medizinische Dienst 185.494 Gutachten nach Widerspruch durch. Das entspricht 7,3 % der Gesamtzahl.

 

Widerspruch einlegen lohnt sich

Kürzlich veröffentlichte Antworten auf mehrere Anfragen von Ates Gürpinar (MdB) an den Deutschen Bundestag zeigten, dass Widersprüche gegen Erstgutachten des Medizinischen Dienstes für Pflegegrad-Einstufungen in den letzten Jahren in etwa einem Drittel der Fälle erfolgreich waren.

Insgesamt wurden „rund 54.839 Gutachten“ korrigiert, gab der Medizinische Dienst (MD) in einer Stellungnahme zu. Das entspricht einer Korrekturquote von 2,3 %. In jedem zweiten Fall wurde ein anderer Pflegegrad zuerkannt. Das kann daran liegen, „dass sich der Gesundheitszustand und damit meist auch der Grad der Pflegebedürftigkeit zwischen dem Termin der Begutachtung und dem Bescheid der Pflegekasse verändert hat“, so der MD. Auch nachgereichte Dokumente können ursächlich sein. Stellen Pflegebedürftige vor der begutachtenden Person ihre Fähigkeiten subjektiv besser dar, als im Alltag real ist, kann das zu Fehleinschätzungen führen. Dies war im fiktiven Fall von Paul Redlich der Fall.

Pflegeforschende bemängeln regelmäßig, dass das derzeitige Begutachtungssystem auf Menschen mit Demenz ausgerichtet sei und es für Personen mit psychischen oder somatischen Erkrankungen trotz Hilfe- und Pflegebedarf schwierig ist, einen adäquaten Pflegegrad zu bekommen.

 

Was Praxismanagerinnen und MFAs wissen sollten

  • Auf dieBegutachtung kann man sich mit Infomaterial von Pflegeberatungsstellen oder Sozialverbänden, z. B. mit Pflegegradrechnern, vorbereiten. Durch Kooperationen können Broschüren in der Praxis ausgegeben werden.
  • Zum Termin sollten die Hauptpflegepersonen anwesend sein.
  • Relevante Befunde und Medikamentenpläne sollten den Familien als Kopie vorliegen.
  • Für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit von Kindern gelten Besonderheiten.
  • Eine hilfreiche Zusammenfassung zur Thematik findet sich u. a. bei der Verbraucherzentrale.
  • Privat Versicherte beantragen einen Pflegegrad bei ihrem Versicherungsunternehmen, via www.pkv.de oder https://www.compass-pflegeberatung.de/ .
  • Bundesweit leisten etwa 7,1 Millionen Personen regelmäßig informelle Pflege. Diese durch Laien ausgebübte Care-Tätigkeit erfolgt in der Regel ohne finanzielle Vergütung. Es kann hilfreich sein, diese Pflegenden auf die notfalls wiederholte Pflegegrad-Beantragung hinzuweisen, insbesondere wenn sich der Gesundheitszustand der gepflegten Person verschlechtert.

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