

Orchideen im Team: Was hochsensible Menschen ausmacht

Es ist 6:30 Uhr. Die Sprechstunde beginnt erst 8:00 Uhr. Belinda sitzt bei leicht gedimmtem Licht am Tresen und bereitet die heutige Sprechstunde vor. Keine Kolleginnen, kein Telefon, keine Musik, keine nörgelnden Patientinnen oder Patienten, nur Stille. Sie genießt die morgendliche Ruhe in der Praxis. Eine Stunde später poltert Celina gut gelaunt und pfeifend zur Tür hinein. Sie knipst das Neonlicht an, zieht die Jalousien im Wartezimmer hoch und schaltet das Praxis-Fernsehen ein. Und das, noch bevor sie umgezogen ist. Belinda fühlt sich gestresst. „Ein freundliches ‚Guten Morgen‘ hätte auch gereicht“, denkt sie. Aber ist sie vielleicht überempfindlich?
Besonders, aber nicht krank
Wie empfindsam Menschen sind, ist unterschiedlich. Die amerikanische Psychologin Dr. Elaine N. Aron forscht seit Anfang der 1990er Jahre zur Thematik. Von ihr stammt der Fachbegriff „Highly Sensitive Person“ (HSP). Hochsensible, auch hypersensitive, Personen sind empfindsamer als die meisten ihrer Mitmenschen gegenüber Reizen von außen als auch aus dem eigenen Körper. Das können Geräusche, Licht und Temperatur ebenso sein wie Harndrang, Herzklopfen oder Gefühle von Aufregung, Freude über Traurigkeit bis Wut. Abgrenzend davon wird der Begriff „Hypersensitivität“ in der Medizin beispielsweise bei Allergien oder Lebensmittelintoleranzen verwendet.
Hochsensible Personen sind nicht krank. Sie verarbeiten lediglich Reize intensiver. Sie haben eine hohe Wahrnehmungsfähigkeit, können emotional intensiver reagieren und sich von äußeren Einflüssen gestresst fühlen. Zudem sind sie besonders empathisch. Warum dieses Persönlichkeitsmerkmal bei manchen Menschen auftritt und bei anderen nicht, ist noch nicht ausreichend erforscht. Neben genetischen Ursachen werden veränderte Hirnstrukturen und Umwelteinflüsse diskutiert. In Studien konnte gezeigt werden, dass Hochsensibilität und Hochbegabung häufig gemeinsam vorkommen.
Feine Antennen in Alltag und Arbeitswelt integrieren
Hochsensible Menschen haben feine Antennen. Sie spüren sehr genau, was in ihrer Umwelt vor sich geht. Sie in Großraumbüros arbeiten zu lassen, kann sie krank machen. Aber auch hier sind Verallgemeinerungen falsch am Platz. Was einen aus einer vollen Straßenbahn oder einem vollen Wartezimmer flüchten lässt, kann eine andere dazu veranlassen, nicht mehr einkaufen zu gehen. Das hat übrigens dazu geführt, dass in einigen Supermärkten „Stille Stunden“ eingeführt wurden. In dieser Zeit wird das Licht gedimmt, es erfolgen weder Durchsagen, noch läuft Musik, Displays sind inaktiv und laute Handygespräche verboten. Von dem Konzept profitieren vor allem neurodivergente Menschen, beispielsweise mit ADHS, Autismus-Spektrum-Erkrankungen, aber auch mit Depressionen, Long Covid, Migräne oder Multiple Sklerose.
Hochsensible Menschen in Unternehmen
Wenn 15 bis 20 % der Bevölkerung hochsensibel sind, sollten Führungskräfte wissen, was es damit auf sich hat und wie man damit umgeht. Der Coach Martin Molitor hat in seinem Artikel Führung von hochsensiblen Mitarbeitern zusammengefasst, welche hilfreichen Skills HSP in Unternehmen und Praxen einbringen:
Sie bemerken Stimmungen und Konflikte in Teams oder bei Besprechungen schnell.
Sie denken gern im größeren Kontext und sehen systemische und soziale Zusammenhänge.
Sie können bestehende Informationen gut mit neuen Daten und Fakten verbinden.
Sie stellen sich künftige Ereignisse lebhaft vor.
Sie neigen zu kluger Voraussicht.
Im Marketing und in Unternehmensbereichen, die Kreativität erfordern, können sie sich entfalten.
Sie sind gewissenhaft, verantwortungsbewusst und versuchen, Fehler zu vermeiden.
Weil hochsensible Menschen gut zuhören können, sind sie als Beraterinnen gut geeignet. Hier müssen sie aber lernen, sich gut abzugrenzen. Nachteilig kann sein, dass HSP wegen ihrer Harmoniebedürftigkeit Konflikten aus dem Weg gehen. Schnelle berufliche Entscheidungen sind nicht ihr Ding. Aber: „Die Hochsensiblen können beinahe jede Arbeit machen, wenn sie sie auf ihre Art machen können“, meint die Psychologin Elaine Aron.
Orchidee, Tulpe oder Löwenzahn?
Wer vermutet, hochsensibel zu sein, findet online jede Menge Selbsttests, auch für Kinder und Heranwachsende. Diese können als erste Orientierung sinnvoll sein, um sich zu vergewissern, dass man zwar anders, aber nicht krank ist. Um behandlungsbedürftige psychische Erkrankungen abzugrenzen, wird eine medizinische bzw. psychologische Ausschlussdiagnostik empfohlen. Forschende, zum Beispiel vom Portal sensitivityresearch.com, beschreiben, wie sich die Kategorien unterscheiden. Danach sind 30 % der Menschen der hochsensiblen Kategorie „Orchideen“ zugeordnet, weil sie besonders schön sind, aber optimale Pflege benötigen. Personen mit geringerer Sensibilität sind als „Löwenzahn“ eingruppiert – sie sind robust und wachsen überall. 40 % liegen genau dazwischen: Die „Tulpen“ sind weniger zart als „Orchideen“, aber auch nicht so robust wie „Löwenzahn“.
Mit Hochsensibilität umgehen
Ob Sie wie Belinda selbst betroffen oder als Vorgesetzte mit hochsensiblen Kolleginnen oder Kollegen konfrontiert sind: Es gibt viele Möglichkeiten, hochsensiblen Menschen das Leben leichter zu machen:
- Reize am Arbeitsplatz und zu Hause minimieren
- Rückzugs- und Ruhephasen einplanen
- „Nein“ Sagen lernen und Überforderung vermeiden
- Als betroffene Personsich selbst nicht isolieren, lieber Geselligkeit dosieren
- Störende Einflüsse ansprechen
- Kritik nicht zu persönlich nehmen
- Auf eine gesunde emotionale Distanz achten
- Eine Entspannungsmethode lernen und/oder Sport treiben.
Wenn Sie sich selbst testen wollen, können Sie dies z.B. hier oder hier tun.
DM
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