Gesellschaftlicher Druck in Arztpraxen spürbar
„Ich warte darauf, wann der Druck so hoch ist, dass alles explodiert.“ Das sagt Dr. Cornelia Werner in der Praxiskolumne des Fachmagazins Medical Tribune. Sie berichtet darin von Patienten, die mit teilweise absurden Anfragen und Anforderungen in ihre Praxis kommen. Patienten, die wünschen, dass die Hausärztin ihre pflegebedürftigen Angehörigen zu Hause besuchen soll, um den Katheter zu leeren. Oder die verlangen, dass die MFA ihnen die Kontaktdaten aller Physiotherapeuten in der Umgebung heraussucht. Oder einer, der Ärger mit seinem Vermieter hat und von der Ärztin hier gerne Unterstützung hätte. Viele Patienten würden aggressiv und gestresst reagieren, wenn man diese Anliegen ablehnt.
Hausarzt als einzige Anlaufstelle
Cornelia Werner sieht das Problem nicht nur, aber auch im maroden Gesundheitssystem. Immer mehr Menschen fallen jedoch auch durch die rissigen Netze des deutschen Sozialsystems. Einige davon suchen dann Hilfe in den hausärztlichen Praxen – obwohl dort viele ihrer Anliegen nicht gelöst werden können. Die hilfesuchenden Menschen geben also den Druck, der auf ihnen lastet, an die Arztpraxen weiter. Teilweise, weil sie an anderer Stelle nicht betreut werden können, teilweise, weil von der politischen Seite die Erwartungshaltung der Patienten immer weiter geschürt wird.
Doch die Praxen arbeiten in vielen Fällen selbst bereits am Limit. Immer mehr Verwaltungsarbeit wird von den Praxen erwartet – trotz massiven Personalmangels. Da sollen elektronische Patientenakten befüllt und einfache medizinische Leistungen umfassend dokumentiert werden. Dazu Cornelia Werner: „Es gibt keinerlei oder kaum Entlohnung für all die zusätzliche Sozialarbeit, die wir leisten. Digitalisieren ist nicht möglich ohne Arbeitseinsatz von Personal!“
Cornelia Werner hat Verständnis für alle Kollegen, die in die Privatmedizin wechseln. Auch sie hat damit bereits geliebäugelt. Die Vorstellung, Patienten endlich individuell ohne Zeitdruck und ohne die Belastung durch ePA oder Regressgefahr behandeln zu können, ist verführerisch. Noch hält sie die Verantwortung für ihre gesetzlich versicherten Patienten davon ab. Sie weiß, dass sich die Situation für viele von ihnen verschlechtern würde.
Mangelnde psychotherapeutische Versorgung
Viele hausärztliche Praxen fangen auch Patienten auf, die eigentlich eine Psychotherapie benötigen. Doch bekanntermaßen ist es je nach Region sehr schwer, einen Therapieplatz zu ergattern. Teilweise sind sogar die Wartelisten schon voll. Dabei zeigt der aktuelle DAK-Psychreport, dass die AU-Bescheinigungen aufgrund psychischer Erkrankung von 2022 auf 2023 um 21 % gestiegen sind. Vor allem kurze Krankschreibungen mit einer Dauer von 1 bis 3 Tagen sind deutlich häufiger geworden. Von diesen Fällen gab es 2023 32 % mehr als im Vorjahr.
Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) berichtet, dass laut der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen die Nachfrage nach psychotherapeutischer Unterstützung in den letzten Jahren stark angestiegen ist. Für 2030 wird laut einer aktuellen Prognose sogar ein weiterer Zuwachs des Versorgungsbedarfs von etwa 23 % erwartet.
In Niedersachsen müssen Betroffene im Durchschnitt 6 Monate auf einen ambulanten Therapieplatz warten, teilweise gibt es Wartezeiten bis zu 2 Jahren. Ein wesentlicher Grund dafür ist laut Psychotherapeutenkammer die unzureichende Verfügbarkeit sogenannter Kassensitze. Laut der Bundespsychotherapeutenkammer fehlen bundesweit mindestens 1.600 davon, um die Nachfrage zu decken.
Auch an der hohen Zahl der Krankschreibungen kann man den wachsenden Druck im Gesundheitswesen erkennen. Beschäftigte dieser Berufsgruppe liegen auf Platz 3 der Fehltage aufgrund psychischer Belastungen. Sie kommen pro 100 Versicherte auf 404 Fehltage. Platz 1 belegen die sozialen und hauswirtschaftlichen Berufe, Platz 2 nichtmedizinische Gesundheitsberufe.
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