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„Die Schere geht überall auseinander“

Für den 8. September 2023 hat der Verband medizinischer Fachberufe (VmF) zur Protestaktion nach Berlin geladen. Mehr als 850 Praxisteams aus dem gesamten Bundesgebiet, besonders viele aus dem zahnärztlichen Bereich, haben ihre Teilnahme bereits zugesagt. Weil die Situation in den Praxen noch nie so prekär war wie jetzt, wollen die Beschäftigten der Gesundheitspolitik die „Rote Karte zeigen“.

„Es ist nicht mehr lustig“, sagt Sylvia Gabel, Referatsleiterin Zahnmedizinische Angestellte im Verband medizinischer Fachberufe. Die Rheinland-Pfälzerin arbeitet selbst in einer Zahnarztpraxis und berichtete bei einer Pressekonferenz im Vorfeld der geplanten Protestaktion, wie sich die wieder eingeführte Budgetierung im zahnärztlichen Bereich auswirkt: Patientenbehandlungen gestalten sich langwieriger, Wartezeiten verlängern sich und die allgemeine Gesundheit, nicht nur von Diabetikern, verschlechtert sich.
 

85 Punkte für 8 kariöse Zähne

Es ist ein Beispiel, das ZFAs nur zu gut kennen. „In Nordrhein-Westfalen stehen zur zahnärztlichen Behandlung 80 bis 85 Punkte pro Quartal und Patient zur Verfügung. Bei 8 kariösen Zähnen dauert die Behandlung 2 Jahre. Mit 18 Punkten schlägt eine eingehende Untersuchung zu Buche, Zahnstein entfernen wird mit 16 Punkten abgerechnet, eine Infiltrationsanästhesie mit 8 Punkten und eine zweiflächige Füllung mit 39 Punkten. Damit ist das Budget mit 81 Punkten erreicht.“ Noch nicht dabei: ein Röntgenbild, eine Vitalitätsprüfung oder eine Zahnextraktion. Ganz zu schweigen von der erst im Juli 2021 in Kraft getretenen und als Meilenstein gefeierten Leitlinie zur Parodontitistherapie, nach der ab September 2021 abgerechnet werden konnte und die seit Januar 2023 budgetiert wurde.

Besonders ärgerlich sei, dass die Krankenkassen jeden Parodontal-Antrag genehmigen, aber weder die zahnärztlichen Teams noch die Patienten über die Budgetierung informieren. „Das ist eine versteckte Leistungskürzung“, sagt Sylvia Gabel und moniert: „Bei der Mundgesundheit wird in Deutschland am falschen Ende gespart.“ Die Planung und Kontrolle der finanziellen Ressourcen sei so unmöglich, Investitionen müssten aufgeschoben werden, die Mittel für Fortbildungen und Mitarbeiterbindung fehlten.
 

Auch viele Beschäftigte der Zahntechnik arbeiten im Niedriglohnbereich

Zahntechnische Leistungen im Rahmen des GKV-Systems müssen ebenfalls entsprechend honoriert werden. Einer aktuellen Umfrage zufolge arbeiten 9 % aller Zahntechnikerinnen und Zahntechniker im Niedriglohnbereich. Weniger als 12,76 Euro pro Stunde verdienen 35 % der Beschäftigten in Mecklenburg-Vorpommern, 22 % in Sachsen, 21 % in Thüringen, aber 5 % in Bayern und 10 % in Schleswig-Holstein. „60 % der Befragten Zahntechniker*innen gaben an, sehr oder eher unzufrieden mit ihrer Gehaltssituation zu sein, in den östlichen Bundesländern sogar 69 %“ gibt Karola Will, Referatsleiterin Zahntechniker*innen im Verband medizinischer Fachberufe, zu bedenken. Eine Inflationsausgleichsprämie von 3.000 Euro erhielten in den östlichen Bundesländern nur 4 % der Teilnehmenden, in den westlichen Bundesländern insgesamt 8 %, in Bayern und Baden-Württemberg sogar 12 %. Immer mehr Beschäftigte denken darüber nach, die Branche zu wechseln.
 

„Ambulantes Gesundheitswesen wird an die Wand gefahren“

Hannelore König, Präsidentin des Verbandes medizinischer Fachberufe, findet klare Worte: Nach mehr als 30 Jahren Budgetierung werde das ambulante Gesundheitswesen aus Sicht des Verbandes medizinischer Fachberufe an die Wand gefahren. Die Arbeitssituation von MFAs und ZFAs kennt der VmF aus aktuellen Umfragen, zuletzt im Juni und Juli 2023. Zwar verdienen MFAs durchschnittlich besser als ZFAs, jedoch sinkt die Tarifbindung kontinuierlich und 38 % der Vollzeitfachkräfte arbeiten im unteren Entgeltbereich. „Das ist beschämend“, so König. „Die Gehaltsschere bei ZFAs geht weiter auseinander. Innerhalb des Vergleichszeitraumes stieg der Anteil untertariflich vergüteter ZFAs von 39 auf 46 %.“ Die wenigsten Berufsangehörigen erreichten 1 Rentenpunkt im Jahr – dafür müssten Vollzeitbeschäftigte 38.901 Euro verdienen.
 

Fachkräfte wandern ab

Unzufriedenheit mit dem Gehalt, Überstunden ohne Ausgleich, das höhere Infektionsrisiko, vermehrte Stressbelastung und Zunahme von Gewalt in den Praxen, vor allem aber fehlende Wertschätzung (Stichwort: „3-mal versagter Corona-Bonus“) führen dazu, dass Fachkräfte flächendeckend abwandern. 39 % der befragten ZFAs und MFAs dachten innerhalb der vergangenen 12 Monate daran, aus dem Beruf auszusteigen.

„In Berlin werben Kliniken MFAs ab, die dort im Schichtdienst als Pflegehilfskräfte anerkannt und eingesetzt werden. Und auch für ZFAs lohnt sich der Wechsel in ambulante Pflegedienste“, nennt Hannelore König Beispiele. „Wenn der Mindestlohn in der Pflege steigt, werden wir unsere Fachkräfte nicht halten können“, warnt sie und konstatiert: „Der Wettbewerb ist völlig verzerrt.“
 

Mit Roter Karte auf dringenden Handlungsbedarf aufmerksam machen

Einige Praxen haben bereits auf die 4-Tage-Woche umgestellt. Facharzttermine sind mancherorts nicht zu bekommen. Es gibt Patientenaufnahmestopps. Ausbaden müssen das die Beschäftigten des ambulanten Gesundheitswesens, die oft schlechte Nachrichten überbringen müssen und zwischen den Stühlen sitzen. „Seit 2021 weisen wir darauf hin. Wir sehen uns nicht wahrgenommen“, sagt VmF-Präsidentin Hannelore König. „Es besteht dringender Handlungsbedarf!“

Die Forderungen zum Protesttag am 8. September 2023 in Berlin heißen unter anderem: „Sichere Honorare statt jahrelanger Unterfinanzierung!“ Gebraucht werden Branchenregelungen, um aus dem Niedriglohnbereich herauszukommen. „Kurzfristig würden uns Steuerentlastungen helfen, mehr netto für brutto, speziell im prekären Bereich“, so die Forderung an den Bundesfinanzminister. Die Gehälter der genannten Berufsgruppen müssten um mindestens 30 % steigen. Auch mehr Planbarkeit bezüglich Digitalisierung und weniger Bürokratie werden angemahnt.
 

Mehr al 1.000 Teilnehmende und Unterstützung zahlreicher Organisationen

Für die Protestaktion am 8. September 2023, die auch von zahlreichen Ärzteorganisationen unterstützt wird, haben sich schon mehr als 1.000 Teilnehmende aus allen Bundesländern angemeldet. Mehr als 20 Redebeiträge sind angekündigt. Unter anderem wird der Bayerische Staatsminister für Gesundheit und Pflege, Klaus Holetschek, sprechen.

Zum Download: Aushang (VmF) Praxis geschlossen

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