Streik: Praxen solidarisieren sich mit Krankenhauspersonal für mehr Lohn und Entlastung
Streiken für Entlastungstarifverträge
Beschäftigte in Krankenhäusern müssen die Versäumnisse von Jahrzehnten verfehlter Gesundheitspolitik ausbaden. So sieht es die Gewerkschaft Verdi und ruft bereits seit Längerem seine Mitglieder dazu auf, sich für mehr Personal und Entlastungstarifverträge in Krankenhäusern einzusetzen. Auch heute streikt in vielen Orten das Gesundheitspersonal in Krankenhäusern dafür – das kommt allerdings in der allgemeinen Berichterstattung oft zu kurz. Zusätzlich fordert Verdi 10,5 % mehr Lohn für Beschäftigte im Krankenhaussektor, wie z. B. für Reinigungspersonal und Mitarbeiter in technischen Bereichen. Bundesweit fehlen laut Verdi 162.000 Stellen in Krankenhäusern insgesamt, in der Krankenhauspflege sind es 70.000.
Ein Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern ist die Situation in der Pflege. Zusammen mit dem Deutschen Pflegerat und der Deutschen Krankenhausgesellschaft entwickelte Verdi ein Instrument, mit dem sich die Personalbemessung in der Pflege beurteilen lässt. Es basiert auf der Pflege-Personal-Regelung (PPR 2.0), die im Entwurf des Krankenhauspflegeentlastungsesetzes festgeschrieben ist. Es war vom Bundeskabinett im Herbst 2022 beschlossen worden.
Die PPR 2.0 soll die Personalsituation in der Pflege mittelfristig verbessern. Sie soll in 3 Stufen eingeführt werden. Seit Januar 2023 läuft die Erprobungsphase. Ab 2025 soll die Personalbemessung scharf gestellt werden und Krankenhäuser, die zu wenig Personal beschäftigen, müssen mit Sanktionen rechnen. Gibt es in einem Krankenhaus jedoch schon einen Entlastungstarifvertrag, kann dies die Einführung der PPR 2.0 ersetzen.
In einigen Teilen Deutschlands gibt es bereits den sogenannten Tarifvertrag Entlastung (TV-E). In 15 Kliniken schloss Verdi solche Tarifverträge mit den Arbeitgebern, wie z. B. an der Charité in Berlin und an 6 Uni-Kliniken in Nordrhein-Westfalen. Das Ziel dieser Tarifverträge ist es, in allen Bereichen für eine ausreichende Personaldecke zu sorgen und nicht nur für die im Gesetz beschriebenen sensitiven Bereiche. Im Zuge der Entlastung müssen Arbeitgeber dafür sorgen, dass die Personalausstattung zur Belegung der Betten passt. Fehlt Personal, müssen Betten gesperrt werden. Wenn Kliniken aufgrund ihrer technischen Ausstattung mehr Patientinnen versorgen könnten, müssen sie mehr Personal einstellen und dürfen nicht länger Lücken im Dienstplan dadurch füllen, dass Mitarbeiterinnen aus dem Urlaub oder dem freien Wochenende geholt werden. Ferner müssen Pausenregelungen eingehalten und Überstunden zeitnah ausgeglichen werden.
Diese Tarifverträge stellen Arbeitgeber nicht zuletzt aufgrund des Fachkräftemangels vor Probleme. Auch der Zwang, dass Krankenhäuser durch die Masse an Behandlungen Investitionslücken der Länder ausgleichen müssen, setzt der Bereitschaft Grenzen. Nicht zuletzt sorgen Energiekrise und Inflation dafür, dass immer mehr kleine Kliniken in Finanznot geraten. Die Gewerkschaft sieht dafür jedoch die Politik in der Pflicht. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) legte auch schon Pläne für eine umfassende Krankenhausreform vor, die derzeit zwischen Bund und Ländern und den Vertretern der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen verhandelt werden.
Beispiel: Privatisierte Uniklinik Gießen-Marburg
Im ersten und einzigen Universitätsklinikum Deutschlands, im Uniklinikum Marburg-Gießen (UKGM), arbeiten mehr als 9.600 Menschen, davon mehr als 7.000 in nicht-ärztlichen Berufen. Ende Februar einigte sich das Land Hessen mit dem zum Asklepios-Konzern gehörenden Betreiber Rhön-Kliniken auf einen sogenannten Zukunftsvertrag. Demnach soll Hessen in den nächsten 10 Jahren 850 Millionen Euro in die Standorte Marburg und Gießen investieren. Der Druck, mit Behandlungen Investitionskosten zu erwirtschaften, entfällt damit weitgehend. Außerdem wurden darin betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen und dem Land Hessen ein Vorkaufsrecht eingeräumt, sollte Asklepios die Kliniken verkaufen wollen.
Verdi kritisiert diesen Vertrag allerdings als nicht ausreichend, da Beschäftigte der Service-GmbH nicht genügend geschützt seien und er keine verbindlichen Standards für die Personalbemessung enthalte. Die Gewerkschaft fordert schichtgenaue Personal-Patienten-Besetzungsregelungen und Belastungsausgleiche für den Fall, dass sie nicht eingehalten werden könnten. Zusätzlich sollen die Ausbildungsbedingungen verbessert werden.
Die Geschäftsführung des UKGM schätzt, dass bei diesen Forderungen 300 bis 400 zusätzliche Vollzeitstellen nötig werden und damit insgesamt 2.300 neue Vollzeitstellen geschaffen werden müssen. Das würde pro Jahr 150 Millionen Euro mehr kosten und sei damit nicht realistisch. Deshalb ging die dritte Verhandlungsrunde letzte Woche ohne Ergebnis zu Ende. Zugleich endete ein 100-Tage-Ultimatum, das mehr als 4.100 Beschäftigte im letzten Dezember gestellt hatten.
Ab heute wird deshalb das Uni-Klinikum bestreikt. Mehr als 400 Beschäftigte legen ihre Arbeit nieder. Ab Mittwoch sind alle Beschäftigten zum Streik aufgerufen. Die Gewerkschaft rechnet damit, dass 1.200 Mitarbeiterinnen dem Aufruf folgen, dass etwa zwei Drittel der geplanten Operationen ausfallen müssen und es auf mehr als 40 Stationen zu Bettensperrungen kommen wird. Für Freitag, den 31. März, sind Kundgebungen und Demonstrationen in Gießen und Marburg geplant.
In Marburg gibt es seit der Privatisierung 2006 große Unterstützung für die Anliegen der Beschäftigten des UKGM. Bereits kurz nach dem Verkauf wurden zahlreiche Pflegestellen gestrichen. Damals sorgten „gesundheitspolitische Montagsgebete“ in der Marburger Elisabethkirche und massenweise solidarische Kündigungen von Ärztinnen und Ärzten für bundesweite Schlagzeilen. Nun haben einige niedergelassene Ärzte angekündigt, aus Solidarität mit den Beschäftigten ihre Praxen während der Streiktage teilweise oder ganz zu schließen, und rufen zu weiteren Solidaritätsbekundungen auf.
Die Niedergelassenen wollen so darauf aufmerksam machen, dass die Krise in den Krankenhäusern auch für den ambulanten Bereich negative Folgen hat. Wenn geplante Operationen aufgrund der Personalnot verschoben werden müssen, steigt der Versorgungsdruck in den Praxen. Die Zeit bis zur OP muss überbrückt werden und Menschen, deren Gesundheitszustand sich dadurch verschlechtert, intensiver versorgt werden. Da auch in Praxen ein Personalmangel besteht, können sie dem steigenden Bedarf oft nicht angemessen nachkommen.
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