Neue Adipositas-Leitlinie thematisiert Stigmatisierung
„Nehmen Sie erstmal ab!“ Mit dieser Aussage werden Menschen mit Adipositas in Arztpraxen noch immer häufig konfrontiert. Das passiert auch, wenn sie wegen gesundheitlichen Problemen kommen, die mit ihrem Übergewicht gar nicht in Zusammenhang stehen, wie etwa einem grippalen Infekt oder neurologischen Symptomen. Die Folge ist, dass die Patienten sich nicht ernst genommen fühlen und Arztbesuche möglichst vermeiden. Dabei sind gerade für sie regelmäßige Check-ups wichtig, um Beschwerden aufgrund des Mehrgewichts frühzeitig zu erkennen. Übergewicht kann nachweislich viele Folgeerkrankungen nach sich ziehen – doch nicht jede Erkrankung ist auf Übergewicht zurückzuführen.
Selbsttest auf Vorurteile
Die Ärztezeitung berichtet von einem Symposium, bei dem das Publikum mit dem Antifat Attitudes Test konfrontiert wurde. Sprecher war Dr. Til Uebel vom Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Würzburg und Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Vertreter der Familienmedizin (DEGAM) in der Leitlinien-Kommission. In diesem Selbsttest müssen die Teilnehmer überlegen, inwieweit sie Aussagen zustimmen wie: „Das Dicksein genetisch verursacht wird, ist bloß eine Entschuldigung“.
Diesen Test hatte Til Uebel bereits 2017 bei einem Vortrag verteilt. Damals stimmten 70 % der befragten Ärzte der Aussage zu, Menschen mit Adipositas seien „nicht willensstark“, ein Fünftel waren der Meinung, „die Gene“ seien eine Ausrede, und mehr als die Hälfte sahen das Problem darin, dass dicke Menschen nur ungesundes Essen kauften.
Til Uebel dazu: „Da sitzt ein Patient, dem muss ich sagen: Vorsicht, wenn du zu deinem Hausarzt gehst – der geht erst einmal davon aus, du kannst nicht einkaufen.“ Viele Ärzte seien davon überzeugt, dass ihre adipösen Patienten schon abnehmen könnten, wenn sie nur wollten. „Das ist schon erschreckend“, meinte der Allgemeinmediziner, „und man kann eigentlich sagen: Da ist die letzten 20 Jahre, seitdem das untersucht wird, nicht viel passiert.“
Entstehung der Adipositas ist komplex
Immer noch wird übergewichtigen Menschen die alleinige Verantwortung zugeschoben. Sie erfahren auch in Arztpraxen häufig
- Body Shaming/Fat Shaming: beleidigende Kommentare zum Körperumfang
- Victim Blaming: Annahme, Patienten seien selbst schuld an ihrem Leid
- Medical Gaslighting: Ärzte sprechen Patienten das eigene (Schmerz-) Empfinden ab.
Das ist falsch, denn bei der Entstehung einer Adipositas spielen noch viele andere Faktoren hinein, wie etwa genetische, erzieherische oder umweltbedingte Umstände.
Deshalb sind die immer gleichen Ratschläge, wie einfach weniger zu essen und sich mehr zu bewegen, bei Weitem nicht zielführend. Laut der Leitlinie entspricht dies nicht dem Forschungsstand zur Körpergewichtsregulation und zur Wirksamkeit der Adipositas-Therapie.
Benachteiligung entgegenwirken
Nicht nur die Ärzteschaft, auch andere Menschen in Gesundheitsberufen würden Adipositas-Patienten nachweislich stigmatisieren, so Til Uebel. Die klinische Entscheidungsfindung könnte so negativ beeinflusst werden. Er rät, sich der eigenen Vorurteile bewusst zu werden. Ein erster Schritt Richtung Entstigmatisierung wäre beispielsweise eine Anpassung der Praxismöbel, sodass auch schwergewichtige Patienten sie bequem nutzen können. Til Uebel empfiehlt: „Haben Sie Stühle, die 150 kg aushalten? Haben Sie Stühle, die links und rechts keine Lehnen haben?“ Wenn nicht, ist es wohl an der Zeit, sie auszutauschen.
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